Avoiding the trap of carbon metrics: Lässt sich Klimapolitik in CO2-Ausstoß bemessen?

Von Camila Moreno, Lili Fuhr and Daniel Speich Chassé***

Bis vor kurzem noch hätten Begriffe wie „CO2-Bilanz“, „CO2-Fußabdruck“ oder „CO2-Ausgleich“ nur fragende Blicke in der allgemeinen Öffentlichkeit hervorgerufen. Inzwischen sind sie in aller Munde, ganz unabhängig von der Frage, ob sie den notwendigen Klimaschutzzielen überhaupt dienlich sind oder nicht. „Carbon metrics“ sind das Maß aller Dinge in der internationalen Umweltpolitik.

Obwohl kaum jemand die Notwendigkeit der Verwendung bestimmter Maßeinheiten oder Messgrößen in der politischen Kommunikation bestreiten würde, ist die Frage, was genau gemessen wird, immer auch eine politische Entscheidung. Solche Entscheidungen bevorzugen jedoch immer bestimmte Interessen und Ansätze gegenüber anderen. In diesem Sinne ist die Entwicklung der globalen Umweltpolitik im Laufe der letzten 30 Jahre eine Geschichte vergessener Alternativen. Unsere Sorge ist nun, dass transformative Ansätze ignoriert werden, solange Messungen auf CO2-Basis die einzigen herangezogenen Indikatoren sind, um im Namen von Klimaschutz Investitionsentscheidungen zu lenken und Prioritäten für öffentliche Politiken zu setzen. Warum ist dies so?

Auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro in 1992 glaubte man, eine Wunderwaffe gegen den Klimawandel gefunden zu haben: die Reduktion von CO2-Emissionen. Dementsprechend ging es in den Folgejahren vor allem darum, Autos, Haushaltsgeräte, Kraftwerke und ganze Industrien effizienter zu gestalten. Dieser „End-of-Pipe„-Ansatz zog jedoch die politische Aufmerksamkeit von den Ursachen des Klimawandels ab und erlaubte den Entscheidungsträgern, sich nur noch mit seinen Symptomen in Form von Emissionen zu befassen.

Zweitens hatte man die Entscheidung getroffen, den Klimawandel in einer Maßeinheit, die unter dem Namen „CO2″-Äquivalent“ bekannt ist, zu messen. CO2, Methan und andere Treibhausgase haben jedoch sehr unterschiedliche Eigenschaften in Hinblick auf ihre Treibhauswirkung und die Dauer, die sie in der Atmosphäre verbleiben. Zudem entstehen sie in bestimmten natürlichen Umgebungen und haben unterschiedliche Wechselwirkungen mit lokalen Öko- und Wirtschaftssystemen. Die Abbildung all dieser verschiedenen Qualitäten und möglichen Auswirkungen in Form einer standardisierten Zahl reduziert ein sehr komplexes Problem auf eine Sache, von der Entscheidungsträger/innen glauben, sie könnten ihr mit einer einzelnen Maßnahme oder Politik beziehungsweise einem einzelnen Instrument oder Ziel begegnen.

Die Gefahren eines CO2-zentrierten Weltbildes

Eine dritte Fehlentscheidung war es, Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe mit denjenigen aus biologischen Prozessen zu verrechnen. Reisfelder und Kühe wurden plötzlich zu Emissionsquellen und tropische Wälder und Sümpfe zu Emissionssenken. Bei Verabschiedung des Kyoto-Protokolls 1997 war „mehr Flexibilität“ die Losung des Tages und der Handel mit Emissionszertifikaten (die ja eigentlich Verschmutzungsberechtigungen darstellen) die bevorzugte Politikoption. Dieser Handel wird jedoch seitdem von den Industriestaaten dazu benutzt, einige ihrer eigenen Verpflichtungen zur Emissionsreduktion zu umgehen im Austausch gegen finanzielle Unterstützung von Reduktionen oder gar „vermiedenen Emissionen“ jenseits ihrer Grenzen. Ein solcher Ansatz hat ganz entschieden zur Zementierung einer engen und allein auf CO2-Emissionen fokussierten Klimapolitik beigetragen.

Heute sehen wir, wie sich neue Märkte für sogenannte Ökosystemdienstleistungen in der ganzen Welt verbreiten: Handels- und Ausgleichsmechanismen wie „wetland-banking“, „biodiversity offsetting“, „forest credits“ und andere übertragen nicht nur die konzeptionellen Prinzipien des Emissionshandels auf andere Bereiche, sondern übersetzen in manchen Fällen sogar Dinge wie biologische Vielfalt oder Ökosysteme, z.B. Feuchtgebiete und Wälder, in CO2-Äquivalente. Anstatt also unser Wirtschaftssystem so anzupassen, dass es sich in die natürlichen Grenzen des Planeten einfügt, definieren wir die Natur so um, dass sie in unser Wirtschaftssystem passt.

Nach dem Pariser Klimagipfel im Dezember 2015 ist die Welt mit der Idee der „Negativemissionen“ und dem Ziel, eine Nettoemissionsbilanz von Null zu erreichen, wieder einmal kurz davor, einen neuen, grundsätzlich falschen Weg einzuschlagen. Denn diese Wendung impliziert, die Welt könne weiterhin neue Emissionen produzieren, solange neue Technologien erfunden werden, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder CO2 aus der Atmosphäre zu saugen. Angesichts dieser Idee geraten Vorschläge für einen sofortigen und radikalen Transformationspfad, der fossile Brennstoffe im Boden lässt, unser Landwirtschaftssystem ändert und unsere natürlichen Ökosysteme wiederherstellt, ins Hintertreffen. Negative Emissionen sind jedoch ein Mythos: wir können nicht immer weiter Massen an CO2 ausstoßen und sogar neue Kohlekraftwerke bauen und gleichzeitig behaupten, mit neuen Technologien gegen den Klimawandel vorzugehen.

Das Vorzeigekind dieser Technologiegläubigkeit ist „Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung“(Bioenergy with CCS= BECCS). BECCS beinhaltet das Anpflanzen großer Mengen an Gras oder Bäumen, die dann als Biomasse verbrannt werden, um Strom zu erzeugen. Das dabei entstehende CO2 wird abgefangen und in Gesteinschichten tief unter die Erde gepumpt – auf alle Ewigkeit sicher gespeichert. Oder nicht? Es ist ziemlich sicher, dass solche Technologien nicht funktionieren: sie sind gespickt mit praktischen Herausforderungen und laufen Gefahr, zukünftige Lecks zu verursachen. Außerdem stellen die notwendigen Landnutzungsänderungen schwerste soziale und ökologische Risiken dar, vor allem im globalen Süden.

„In der Monokultur von CO2-Bilanzen werden wirkliche Alternativen im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar.“

Bei diesem kurzen Galopp durch die jüngste Geschichte der Umweltpolitik wird klar, dass sich die Dominanz von CO2-Bilanzen bei jedem einzelnen Schritt und jedem neuen Wendepunkt verstärkt hat. Da das, was gemessen wird, auch das bestimmt, was angegangen wird (oder auch liegengelassen wird), ist dies eine sehr ernstzunehmende Entwicklung. Aber wie ist es möglich, dass wir uns so haben verführen und fehlleiten lassen? Eine mögliche Antwort wäre, dass wir so viele falsche Schritte in den letzten paar Jahrzehnten unternommen haben, dass jeder einzelne von ihnen unsere Vision dessen, was falsch oder zukünftig möglich ist, weiter verengt hat. In der Monokultur von CO2-Bilanzen werden wirkliche Alternativen im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar.

Die momentane Besessenheit von Messungen und Verrechnungen geht dabei weit über den Umweltbereich hinaus: Die Welt lebt von Abstraktionen: Kalorien, Meter, Kilos, Bruttoinlandsprodukt (BIP) und nun CO2. Die Schaffung und Übernahme des metrischen Systems selbst war ein ausschlaggebender Schritt zur Herausbildung einer wirklich globalisierten Welt. Wir denken sehr selten daran, dass diese Abstraktionen eine Geschichte haben, von der sie in vielfältiger Form grundlegend geprägt sind. Und wir vergessen oft, wie sie Fragen nach Macht und Politik hinter vermeintlich objektiver Expertensprache verstecken.

Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Messung von Wirtschaftsleistung in Form des Bruttoinlandsprodukts (BIP), was zur Zeit des zweiten Weltkriegs bahnbrechend war, seitdem aber eine Frustrationsquelle darstellt, aus der ein Entkommen unmöglich scheint. Das BIP zieht wie ein allmächtiger Autokrat alle Aufmerksamkeit auf sich – wobei die Geldökonomie stark überbewertet wird. Gleichzeitig werden nicht in Geld messbare Werte als zweitrangig deklariert und damit jegliche Entscheidungskompetenz verzerrt. Quantifizierung kann zwar sehr erhellend sein, aber sie kann auch genau so gut blind machen. Wie im Fernlicht-Scheinwerfer eines Autos mag ein kleines Stück der Straße taghell sein, während die Dunkelheit der Nacht umso tiefer erscheint. Ein ähnliches Risiko haben wir, wenn wir CO2 zum einzigen Negativmaßstab für unseren Wohlstand erklären.

Ein gefährlicher Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit

Die Messgrößen, die unsere Gesellschaften heutzutage dominieren, haben eine besondere Eigenschaft: nämlich einen Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit, der eng verflochten ist mit der Entstehung des kapitalistischen Weltsystems. Im Laufe dieses Prozesses trat die Quantifizierung an die Stelle eines qualitativen Denkens, verdrängte ein lineares Verständnis von Wandel komplexere Vorstellungen und zerstörten standardisierte Messgrößen die Nuancen lokaler Besonderheiten. Übersetzt in den Bereich des Klimawandels bedeutet dies, dass alles, was auch nur ein bisschen die Nettoemissionen reduziert, das Richtige sein muss – auch wenn es einen fundamentalen Wandel der Wirtschaft verhindert oder die Fähigkeit von Kommunen reduziert, Probleme und Lösungen selbständig zu definieren.

Diese Effekte sind klar anhand des Europäischen Emissionshandelssystems (EU ETS) zu beobachten. Während seine Befürworter/innen argumentieren, dieses System habe die Emissionen durch das Setzen einer klaren Obergrenze reduziert, ist sein Einfluss auf den Klimawandel insgesamt fragwürdig. Die deutsche Energiewende zum Beispiel hat sehr wenig zu tun mit dem EU ETS. Dahingegen hat die schiere Existenz dieses Systems den Kohle- und Ölkonzernen und der Autolobby geholfen, für ein einziges „technologieneutrales“ Klimaziel (sprich: Emissionsreduktionsziel) zu kämpfen – wodurch es die Forderung nach spezifischen erneuerbaren Energiezielen, Energieeffizienzzielen oder Brennstoffqualitätsstandards geschwächt hat.

Die Besessenheit von CO2-Bilanzen trägt dazu bei, Atomenergie, die Ausbeutung von Erdgas (inklusive Fracking), Biokraftstoffe und andere riskante und gefährliche Technologien voranzutreiben, solange diese behaupten, weniger CO2 auszustoßen, als das ohne sie der Fall wäre. Nichts von alldem wird uns allerdings auch nur ein Stückchen den tief greifenden Veränderungen näherbringen, die nötig sind, um den Klimawandel aufzuhalten. Diese hängen jedoch von der Bewahrung und Nutzung vielfältiger, nichtlinearer Ideen und Lösungsansätze ab.

Nach Boaventura des Souza Santos ist das Unvermögen, verschiedene Arten von Wissen anzuerkennen, ein Akt von „kognitiver Ungerechtigkeit“ oder „Epistemizid“ (also erkenntnistheoretischer Mord). Ein ökologischer Epistemizid (also die bewusste Zerstörung einer ganzen Vielfalt an ökologischem Wissen) setzt die Welt dem Risiko aus, eine große Bandbreite an Wissen, Weisheit und Praktiken zu verlieren, die uns helfen könnten, den multiplen Krisen, denen wir ausgesetzt sind, entgegenzutreten. Da sind zum Beispiel die verschiedensten Systeme von Agrarökologie, die oft zugunsten von sogenannter “climate smart agriculture” (also „klimaintelligenter Landwirtschaft“), deren Auswirkungen meist ausschließlich in CO2-Äquivalenten gemessen werden, ignoriert werden. Also was ist zu tun?

Die Verdrahtung unserer Gehirne hin zu einer neuen Messgröße geschieht nicht über Nacht. Es ist ein langfristiger Prozess. Ein metrisch ausgerichteter Geist benötigt eine ebensolche Mentalität, eine besondere Denkungsart für sich und eine Art und Weise, die Welt in Form von Zahlen zu verstehen. Unter der Dominanz von CO2-Bilanzen werden neue Generationen nur eine CO2-abhängige Welt (oder eines Tages vielleicht eine „low carbon“ Welt) kennen. Dies ist allerdings eine sehr stark reduzierte Vision der Zukunft. Klügere und gedankenreichere Strategien brauchen auch eine andere Art des Denkens und Wissens sowie aktives Engagement dafür, die Räume für solche Alternativen zurückzufordern und zu bewahren.

Die in Paris unterzeichnete Klimavereinbarung verkörpert die Herrschaft von CO2 Bilanzen und zementiert damit ein Muster, das gekommen sein könnte, um zu bleiben. Dieses Muster stellt ein weiteres Kapitel in der langen Geschichte der kapitalistischen Quantifikation dar und führt diese zu neuen Höhen, indem es einen sehr engen und selbstbegrenzenden Satz von Indikatoren in die immer problematischer werdende Debatte zur „Dekarbonisierung“ einfügt. Dadurch werden die Aussichten auf einen fundamentaleren Wandel der Gesellschaft geringer – trotz der Tatsache, dass ein solcher Wandel der einzige Weg ist, die Herausforderungen des Klimawandels mit wirklicher Überzeugung anzugehen.

Eine ausführliche Version der Argumente dieses Artikels in englischer Sprache ist in der Publikation “Carbon Metrics. Global abstractions and ecological epistemicide” zu lesen.

Dieser Artikel ist zunächst hier auf Englisch erschienen (mit CC BY-NC 4.0 Lizenz). Auf Deutsch erschien er zunächst hier. Übersetzung ins Deutsche: Christiane Kliemann.

***Meine beiden Ko-Autor/innen:

Camila Moreno forscht an der „Federal Rural University of Rio de Janeiro“ und verfolgt seit 2008 die UN-Klimaverhandlungen. Sie forscht vor allem an den Schnittstellen zwischen Argumentationen zum Klimawandel und dem „Ergrünen“ des Kapitalismus. Ihr Buch „Carbon Metrics and the New Colonial Equations“ erscheint Mitte 2016 in Brasilien.

Daniel Speich Chassé ist Professor für Geschichte an der Universtität Luzern. Er studiert die Evolution von Wissenssystemen in der modernen Welt seit 1800. Sein Schwerpunkt liegt auf der Regierungsführung bezogen auf Umwelt und Wirtschaft. Seine jüngste Monographie befasst sich mit den globalen Auswirkungen der ökonomischen Abstraktion des Bruttoinlandsprodukts.


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