Anlässlich des G-20-Gipfels in Hamburg Anfang Juli haben 25 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen „Aufruf zum Ökologisch Nachhaltigen und Partizipativen Wirtschaften“ veröffentlicht. Ich veröffentliche ich ihn hier in voller Länge auf Deutsch. Auf Englisch ist er bereits hier verfügbar.
Aufruf zum Ökologisch Nachhaltigen und Partizipativen Wirtschaften
– anlässlich des G-20-Gipfels vom 7./8. Juli in Hamburg –
„Es stünde schlecht um die Wissenschaft, wenn es Späteren nicht gestattet sein sollte, zu dem, was Frühere gefunden haben, noch Neues hinzuzufügen.“ (Georgius Agricola, De Re Metallica, 1548)
„How fleeting are the wishes and efforts of man! how short his time! and consequently how poor his products be, compared with those accumulated by nature during whole geological periods. Can we wonder, then, that nature’s productions should be far ‚truer‘ in character than man’s productions; that they should be infinitely better adapted to the most complex conditions of life?“ (Charles Darwin, The Origin of Species By Means of Natural Selection, 1859)
Klimawandel, Artensterben und Umweltzerstörung sind Herausforderungen, die das Leben aller Menschen trotz unterschiedlicher kultureller und politischer Bedingungen bedrohen.
Wir rufen daher Wirtschaft, Wissenschaft und Politik auf, umzusteuern. Die Wende hin zum ökologisch nachhaltigen und partizipativen Wirtschaften ist unausweichlich.
I.
Der Ausstieg aus der Atomenergie wegen ihres Jahrtausende langen radioaktiven Gefährdungspo-tentials und der Umstieg in die Nutzung erneuerbarer Primärressourcen zur Stromerzeugung (Ener–giewende) sind bereits in vielen Ländern beschlossen. Weiter kommt es darauf an:
– fossile Energieträger („stranded assets“) im Boden zu belassen,
– Energieumwandlungen in Strom effektiver zu betreiben und Strom dezentral zu speichern,
– speziell in Ballungsräumen kostenlosen, vernetzten und abgasarmen öffentlichen Personennahverkehr voranzubringen und damit den Schadstoffgehalt der Luft zu verringern,
– endlich die Vernetzung von Straßen- und Schienenfahrzeugen anzugehen (Frederic Vester).
Weiter sind:
– Belastungen des Grundwassers und so Wiederaufbereitungskosten für Trinkwasser zu reduzieren,
– die lebendige Qualität des Bodens durch ökologische Bewirtschaftung wiederherzustellen,
– die Ozeane vor Überfischung zu schützen und vor der Belastung mit Plastikabfall zu bewahren,
– Bäume zu pflanzen und Urwälder als Sauerstoff produzierende Lungen der Erde zu erhalten,
– Naturflächen auszuweisen und (soweit wie möglich) von menschlicher Einflussnahme frei zu halten, damit sich die lebendige Natur in ihrer Artenvielfalt ungestört weiter entfalten kann.
Insgesamt muss ökologisch nachhaltiges, d. h. Umweltbelastungen von vornherein vermeidendes, Wirtschaften Priorität vor Recyclingstrategien erhalten.
II.
Bemühungen um eine Belastungsreduzierung allein reichen jedoch nicht aus. Sie müssen auch von einer Ökonomikwende begleitet werden:
Die Form unseres Umgangs mit Natur muss modernisiert werden. Wir wissen, Natur braucht uns Menschen nicht, aber wir benötigen als natürliche Lebewesen (Adam Smith) eine unbelastete Natur. Wir sind heterotroph, leben von dem, was gelebt hat. Mit jedem Atemzug nehmen wir die Umge-bungsluft in uns auf und geben Natur die nicht mehr benötigten Gase zurück.
Die bisherige Annahme der Wirtschaftstheorie, Natur sei lediglich ein externes, unendlich verfügba-res Objekt (Karl Polanyi: Warenfiktion) erkennen wir als eine historisch überholte, verengte Annahme (Peter Bendixen). Wir folgen damit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften (Carlo Rovelli). Wir anerkennen, dass wir Menschen uns als natürliche Lebewesen in einem offenen, wechselwirkenden Prozess direkt, unmittelbar und unvermittelt mit Natur austauschen. Natur kann daher nicht nur als unsere Umwelt angesehen, sondern muss als unsere lebendige MitWelt (Klaus-Michael Meyer-Abich) verstanden werden.
Wir unterscheiden drei verschiedene Formen unseres Austausches mit Natur:
– den direkten unvermittelten und unmittelbaren Austausch mit Natur (= nateconomy) (Aristoteles, Charles Darwin),
– den durch das kulturell enrwickelte Medium Geld vermittelten Tausch (= culteconomy),
– sowie die Vertauschung des Geldmittels mit dem Ziel des Tausches (= economicult), in dessen Folge sowohl unsere natürliche MitWelt als auch unsere natürlichen Fähigkeiten als blosse Mittel zur Geldvermehrung erscheinen. Eine solche Mittel-Ziel-Vertauschung ist jedoch weder fair oder natürlich, noch folgenlos.
Wir sehen ein, dass die Zerstörung der lebendigen Natur Folgewirkung unseres bisherigen Umgangs mit ihr ist. Dabei sind wir jedoch nicht nur die Täter, sondern zugleich auch die Opfer solcher Lo-gik, von der immer noch wider besseren Wissens behauptet wird, es ginge nicht anders.
Unterbliebe die Modernisierung des Naturverständnisses der Ökonomik, könnte unser Aufruf zur ökologisch nachhaltigen und partizipativen Wende diskreditiert werden als Bedrohung existie-render Industrien, von Wirtschaftswachstum, Steuereinnahmen oder Arbeitsplätzen.
Wir fordern daher, nicht nur die Quantität unseres Naturaustausches zu reformieren, sondern auch seine Qualität. Wir benötigen eine neue Form des Umgangs mit Natur, einen Paradigmenwechsel.
III.
Von vielen internationalen und nationalen Institutionen wurden bereits Strategien für nachhaltige Entwicklung erarbeitet und der „Schutz der Natur“ in Verfassungen aufgenommen. Nun gilt es:
– diese Formulierung zu erweitern als „Schutz der Evolutionsfähigkeit von Natur“, und die direkte, unmittelbare, unvermittelte, unbelastete und kostenlose Nutzung unserer natürlichen MitWelt als ein Grundrecht für alle Menschen anzusehen.
Ökologisch nachhaltige und partizipative Modernisierung muss Priorität in allen Lebensbereichen erhalten, im öffentlichen und wirtschaftlichen Bereich genauso wie im wissenschaftlichen und privaten:
– Die Legislative darf sich nicht nur als Regler des Verhaltens von anderen verstehen. Öffentliche Akteure sind verpflichtet, in ihrem eigenwirtschaftlichen Handeln vorbildlich ökologisch nachhaltig zu sein. Die Errichtung eines Umweltministeriums oder eines politikberatenden Nachhaltigkeitsrates reichen nicht aus. Diese Wende ist eine politische Querschnittsaufgabe.
– Öffentliche Gebäude, seien es Bundes- oder Landesministerien, Polizeistationen oder Justizeinrichtungen, Technologiezentren oder Hochschulen, Schulen oder Kindergärten sind ökologisch zu modernisieren.
– Öffentliches Bauen darf nicht länger seinen Fokus allein auf kurzfristige Kostengünstigkeit richten.Einmalig höhere Investitionen rechnen sich durch langjährige niedrigere Nutzungskosten.
– Die Modernisierung von Studiengängen ist überfällig. Für Architekten/Ingenieure muss ökologisch nachhaltiges Bauen und Renovieren selbstverständlicher Lehrinhalt werden.
– Das Verständnis der Ökonomen von Natur muss reformiert werden. Ihr Eigenwert und unser dreidimensionaler, unvermittelter Austauschprozess mit ihr müssen beachtet werden.
– Für alle öffentlichen Förderprograme müssen Nachhaltigkeitsstandards verpflichtend werden.
– In Erweiterung der gesetzlichen Vorschrift zur jährlichen Vorlage einer Finanzbilanz sind alle Firmen durch eine EU-Richtlinie zu verpflichten, in einer Integrierten Bilanzierung ihren Aus- tausch mit Natur in exakten physikalischen Grössen, wie Gewicht, Volumen usw., offenzulegen, denn unser Austausch mit Natur erfolgt in physikalischen Grössen. Für Natur hat Geld keine Bedeutung.
Diese Integrierte Bilanzierung ist in Betriebs-, Produkt- und Humanökologie zu gliedern. Nur so wird es möglich, den durch Nutzungsreduzierung jährlich erzielten Profit für die Natur zu erfassen und ihn als gleichberechtigtes Ziel neben das unternehmerische Streben nach finanziellem Gewinn zu stellen.
Einen Schlüsselbereich für die Abkehr von der Schädigung unserer MitWelt und die Wende hin zu einem von vornherein fairen Umgang mit unserer MitWelt stellt die Finanzindustrie dar:
– Öffentliche Banken dürfen sich nicht länger an der Finanzierung von mitwelt- und menschen schädigenden Projekten beteiligen.
– Zentralbanken dürfen nicht länger mitwelt- oder menschenschädigende Finanzprodukte als Mindestreserve akzeptieren.
– Alle Geschäftsbanken müssen nachprüfbare Informationen zu Nachhaltigkeitsstandards für ihr Eigengeschäft sowie für alle durch sie offerierten Finanzprodukte vorlegen.
– Für alle neu zuzulassenden Finanzprodukte müssen in Anlehnung an die Agenda 2030 Nachhaltigkeitsstandards (Sustainable Development Goals) verpflichtend gelten.
– Eine unabhängige öffentlich-rechtliche Ratingagentur („Nachhaltigkeits-TÜV“) ist für Finanzprodukte einzurichten.
– Spekulationen mit Nahrungsmitteln sind auf echte Sicherungsgeschäfte für sie produzierende Firmen zu beschränken.
Darüberhinaus fordern wir, Arbeit und Einkommen zu entkoppeln. Ein bedingungsloses, für Frauen und Männer gleich hohes Grundeinkommen ist einzuführen.
Zudem sind „Häuser der Eigenarbeit“ zu installieren.
Erst dann werden wir das, was wir selbst tun, genau so schätzen wie eine abhängige Beschäftigung und unsere verlorengegangenen eigenen Talente entwickeln. Fortschritt ist es, wenn alle Menschen über mehr Freiheit und Selbstbestimmung verfügen.
Und last not least sind, wie der US-amerikanische Ökonom Kenneth E. Boulding schrieb, „Menschen, die davon ausgehen, das exponentielles Wachstum auf einem endlichen Planeten andauern kann, entweder nicht ganz bei Sinnen oder Ökonomen.“
IV.
Dieser Aufruf wurde am 2. Mai 2017 erstellt und am 29. Mai letztmalig geändert.
Er wurde aus themenbezogenen Einzelforderungen umweltsensibler Wissenschaftler zusammenge-stellt. Die Autoren eint die Einsicht zur Veränderungsnotwendigkeit. Die Zustimmung zu allen hier präsentierten Forderungen ist damit nicht zwingend verbunden.
Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner:
Dr. Irene Schöne, Kiel; Prof. Dr. Haral Bolsinger, Würzburg (für den Teil Finanzindustrie);
Prof. Dr. Johannes Hoffmann, Kelkheim; Prof. Dr. Volker Stahlmann, Ottensoos
Weitere Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:
Prof. Dr. Heinz Häberle, Herrsching; Prof. Dr. Andreas Häberle, Rapperswil/Schweiz;
Sebastian Schönauer, Bund Naturschutz Bayern; Stefan Klinkenberg Architekten, Berlin;
Prof. Dr. Andreas Knie, WZB Berlin; Ed van Hinte, Den Haag/Niederlande;
Umwelt-Akademie e.V., München; Prof. Dr. Antonio Autiero, Münster;
Prof. Dr. Bernd Hirschl, IÖW, Berlin; Heidrun und Prof. Dr. Hans Kessler, Werther;
Prof. Dr. Wolfgang Gantke, Frankfurt; Prof. Dr. Edward O. Wilson, Cambridge/USA;
Prof. Dr. John D’Arcy May, Geelong/Australien; Prof. Dr. Michael Rosenberger, Linz/Österreich;
Dr. Gerhard Hofmann, Berlin; Prof. Dr. Heribert Schmitz, Goldbach;
Monika von Brandt, Mannheim; Prof. Dr. Gerhard Scherhorn, Mannheim,
Prof. Dr. Haruko Okano, Tokio/Japan; Prof. Dr. Wolfgang Schröder, Kassel;
Prof. Dr. Benezet Bujo, Fribourg/Schweiz; Dr. Hyunju Shin, Seoul/Südkorea;
Nachtrag (26.06.2017):
hier die aktualisierte Liste der Unterzeichner/innen:
Prof. Dr. Heinz Häberle, Herrsching
Prof. Dr. Andreas Häberle, Rapperswil/Schweiz
Sebastian Schönauer, Bund Naturschutz Bayern
Dr. Gerhard Hofmann, Berlin
Stefan Klinkenberg, Berlin
Ed van Hinte, Den Haag/Niederlande
Prof. Dr. Andreas Knie, Berlin
Prof. Heribert Schmitz, Goldbach
Prof. Dr. Antonio Autiero, Münster
Prof. Dr. Wolfgang Gantke, Frankfurt
Monika von Brandt, Mannheim
Prof. Dr. Gerhard Scherhorn, Mannhaim
Prof. Dr. Edward O. Wilson, Cambridge/MA/USA
Prof. Dr. Haruko Okano, Tokio
Prof. Dr. Hans Kessler
Umwelt-Akademie e.V., München
Prof. Dr. John D’Arcy May, Melbourne,/Australien
Prof. Dr. Wolfgang Schröder, Kassel
Prof. Dr. Benezet Bujo, Fribourg
Dr. Hyunju Shim, Seoul
Prof. Dr. Franz Segbers, Marburg
Sebastian Schönauer, Regensburg
Prof. Dr. Franz-Josef Stendebach, Hünfeld
Prof. Dr. Bernd Hirschl, Berlin
Gerhard Guldner, Berlin
Amelia Zinke, München
Dieter Walch, Nieder-Olm
Walter Hofmann, Dachsberg-Wilfingen
Rainer Schubert, Hamburg
Dr. Lothar Gündling, Porto, Portugal
Wilfried Rähse, Hamburg
Prof. Dr. Robert Schlögl, Berlin
Veronika Neukum-Hofmann, Berlin
Dieter Holm, Hartbeespoort/Südafrfika
Michael Thalhammer, Wien/Österreich
Prof. Wolfgang Hempel, Gaggenau
Marcus Vietzke, Berlin
Bernd Ahlers, Berlin
Dr. Gerhard Knies, Hamburg
Helmut Alber, Stuttgart
Rosi Schusser, Berlin
Ewa Nitsch, München
Bettina-Maria Avdulahi, Berlin,
Frank Schäufele, Lenningen
Norbert Spielmann, Kreuzwertheim
Alfons Kuhles, Meiersberg
Rainer Hachfeld, Berlin
Klaus Rollenhagen
Thorsten Kodalle, Bielefeld
Brigitta Schmidt, Bad Neuenahr
Dieter Klein, Bad Schwalbach
Dr. Alla Ahmed Juma, Köln
Rainer Diehl, Worms
Lorenz Töpperwien, Köln
Jürgen De Graeve, Manching
Lutz Mez, Berlin
Dr. Keivandokht Ghahari, Köln
Ute Koczy,, Lemgo
Dr. Joachim Braun; Berlin
Doris Holler-Bruckner, Orth/Donau
Petra Ernstberger, Hof/Marktredwitz
Thomas Matussek, Berlin
Dr. Jean-Marc Suter, Bern
Hayder Abbas Alhawani, Berlin
Ursula Meiß, Herne
Ralf Ruszynski, Berlin
Christian Breyer, Ph.D., Lappeenranta
Tina Stadlmaye, London
Thomas Gschwend, Oberriet/Schweiz
Prof. Dr. Klaus J. Bade , Berlin
Ernest Lang, München
Fahime Farsaie Köln
Gerd Aschmann, München
Joachim Lund, Berlin
Olga Borobio, Berlin
Hartmut Palmer, Bonn
Dr. Henner Gladen, Erlangen
Dr. Mariana Bozesan, München
Dr. Klaus Hermann Ringwald, Brunei
Christoph Richter, Almeria
Matthias Wiegel, Berlin
Matthias Giegerich, Frankfurt
Prof. Dr. Dieter Puchta, Berlin
Uta Petersen, Berlin
David Volbracht, Münster
Dr. Constanze Adolf, Brüssel
Rolf Uhlig, Münster
Manfred Schweda, Casablanca
Benjamin Wagner vom Berg, Bremerhaven
Dr. Gerd Harms, Potsdam
Alexander Ebel, Berlin
Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, Kassel
Peter Wittke, Kösching
Prof. Dr. Michael Düren, Gießen
Prof. Dr. Robert Schlögl, Berlin
Hayder Alhawani, Berlin
Roland Geiger, Kiel
Gisela Lerch, Berlin
Dr. Helmut Röscheisen, Köln
Martina Schmöllebeck, Nürnberg
Peter Finke, Bielefeld
Prof. Dr. Peter Brandt, Hagen
Dr. Knut Nevermann, Berlin
Dieter Ernst, Berlin
Prof. Dr. Paul Velsinger, Dortmund
Lorenz Knauer, München
Rüdiger Glodde, Berlin
Hartmut Idzko, Berlin
Wilfried Rähse, Hamburg
Dr. Winfried Hoffmann, Hanau
Roger Kutschki, Berlin
Hildegard Hofmann, Nürnberg
Dr. Enno Aufderheide, Bonn
Georg Brakmann, Waiblingen
Walter Tauber, Grünendeich
Prof. Dr. Ortwin Renn, Berlin
Rainer Burchardt, Mözen
Martin Schmuck, Mönchengladbach
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