Mehr Licht ins Dunkel der Kunststoffwelt – welche Daten wir für den Plastikatlas bekommen haben und welche nicht

Der heute veröffentliche Plastikatlas lebt von guten Studien, Informationen und Fakten. Allerdings sind wir im Laufe unserer Recherchen immer wieder auf Themen und Aspekte gestoßen, wo es uns unmöglich war, geeignete Daten zu bekommen – teilweise, weil es sie gar nicht gibt, und teilweise, weil man sie uns nicht geben wollte. Dieser Beitrag handelt von der dunklen Seite der Kunststoffwelt.

Von Kai Schächtele (Projektleiter Plastikatlas) und Lili Fuhr (Gesamtleitung Plastikatlas bei der Heinrich-Böll-Stiftung)

Wenn man sich auf den Weg macht, den Kosmos der Kunststoffproduktion zu vermessen, wird man beinahe erschlagen von Daten und Grafiken. Denn alle Welt redet über Plastik und im Plastik-Universum steckt die große Welt im Kleinen. Die Plastikkrise ist ein Sinnbild dafür, was schief läuft in westlichen Konsumgesellschaften, und zeigt auch, welche Auswirkungen unsere imperialen Lebensstile auf andere Gesellschaften und Ökosysteme haben.

Für die enormen gesundheitlichen und ökologischen Risiken von Plastik gibt es unzählige Studien – und genau die haben wir für unseren Plastikatlas gelesen, verglichen, nach infografiktauglichen Daten durchforstet und diese dann aufbereitet. Dabei haben wir zum Beispiel auch viel über die Geschichte von Plastik gelernt: Ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Stoffe erfunden, die breiteren Bevölkerungsschichten einen Komfort ermöglichten, der bis dahin nur jeweils kleinen Gruppen vorbehalten war: Anstelle von Seide gab es plötzlich Nylonstrumpfhosen. Mit Cellophan konnten Lebensmittel länger haltbar gemacht werden. Und nebenbei mussten keine Elefanten mehr sterben, um etwa Klaviertasten herzustellen.

Doch mit zunehmendem Entwicklungsgrad unserer Wohlstandsgesellschaften verkehrten sich die positiven Effekte in ihr Gegenteil. Und es gibt viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auf der Grundlage fundierter Analysen darlegen, in welcher Weise die Menschheit an der Herausforderung scheitert, mit Kunststoffen vernünftig umzugehen, und damit die ungebremste Vermüllung von Umwelt und Meeren einerseits und die Vergiftung des Menschen andererseits zu verantworten hat.

Eine der zentrale Untersuchungen stammt von Jenna R. Jambeck, Kara Lavender Law und Roland Geyer: Production, use, and fate of all plastics ever made. Das amerikanische Forscher/innenteam hat Daten aus der Geschichte der Plastikproduktion ausgewertet und ist zum Ergebnis gekommen, dass von den seit 1950 produzierten 8,3 Milliarden Tonnen Plastik weniger als zehn Prozent recycelt worden sind. Viele Schaubilder und Grafiken, die im Netz zu finden sind, beziehen sich auf genau diese zentrale Studie. Etwa in einer Zusammenstellung von Zahlen und Fakten auf der Seite von National Geographic: Dort erfährt man dann, dass etwa die Hälfte allen jemals hergestellten Kunststoffs erst seit dem Jahr 2000 produziert worden ist.

Es gibt aber eben auch Daten, die nicht zu bekommen sind, so gern man sie veröffentlicht sähe. Bei der Produktion des Plastikatlas sind wir mehrmals an solche unsichtbaren Wände gestoßen. Etwa bei der Frage, wie viel Plastik bei Großveranstaltungen wie Fußball-Weltmeisterschaften oder Musik-Open Airs konsumiert wird. Der massenhafte Verbrauch von Einweg-Plastikartikeln ist eines der großen Probleme unserer Zeit und Megaevents sind hier ein wesentlicher Antreiber – zum einen wegen der schieren Menge an Plastikbechern, die dort zum Einsatz kommen, zum anderen aber auch, weil von solchen Events eine große Strahlkraft für die Alltagskultur ausgeht.

Doch wo Veranstalterinnen und Ausrichter das Sagen haben, halten sie im Wortsinn den Deckel auf die Informationen, die nach draußen dringen. Wir wollten beispielsweise wissen, wie viel Plastik bei einem Super Bowl über die Theken der Getränkestände geht. Doch man sagte uns: Wenn wir darüber berichten wollten, welche Anstrengungen die Stadionbetreiberinnen und -betreiber unternehmen, um den Plastikverbrauch zu reduzieren, könnten wir gern Daten erhalten. Wenn es uns allerdings darum gehe, dass Football-Arenen noch stärker reguliert werden sollen, eher nicht. Der Super Bowl musste aus dem Atlas deshalb draußen bleiben.

Ein anderes Beispiel sind Daten aus dem E-Commerce. Es lässt sich an einzelnen Entwicklungsschritten gut nachvollziehen, wann und wie unser Umgang mit Plastik aus den Fugen geraten ist. So entschied etwa Coca-Cola im Jahr 1978, die Glasflasche durch Plastikflaschen zu ersetzen. Dieser Moment markiert den Beginn der Wegwerfkultur, wie wir sie bis heute kennen. Sie äußert sich etwa darin, dass die Deutschen für Heißgetränke jährlich 2,8 Milliarden Einwegbecher verwenden – das sind 34 pro Kopf.

Mit der Entwicklung des E-Commerce hat diese Entwicklung einen weiteren Schub erhalten. Das Online-Shopping produziert neue, immense Müllberge – viel Pappe und Papier, aber eben auch Plastik. Denn jedes Produkt, das wir uns nach Hause schicken lassen, ist mehrfach eingepackt – in Kunststoffhüllen wie Pappschachteln. Doch auch hier war es uns nicht möglich, verlässliche und aussagekräftige Daten zu erhalten. Online-Händler haben zwar günstige Güter im Angebot, die innerhalb von 24 Stunden an der Wohnungstür ankommen, aber keine Lösung für die Plastikkrise – niemand möchte dafür in der Öffentlichkeit kritisiert werden.

In so einem Fall mussten wir dann für den Plastikatlas einige Umwege gehen, um die globalen Zusammenhänge dennoch darzustellen. Zum Beispiel mit einer Studie der Weltbank, die den Zusammenhang zwischen dem Wohlstand einer Nation und ihrer Müllproduktion aufzeigt: What a Waste. Den Großteil des Mülls auf dieser Welt haben die Wohlstandsnationen im globalen Norden zu verantworten und es ist deshalb keine Überraschung, dass es den Ländern im globalen Süden langsam reicht: Malaysia hat vor einer Woche 450 Tonnen Plastikmüll zurückgeschickt in Herkunftsländer wie Großbritannien, die USA oder China. Die Begründung des zuständigen Ministers : „Malaysia ist nicht länger die Müllhalde für die entwickelten Länder.“

Aber keine Sorge: Wir haben insgesamt auf jeden Fall mehr als genügend Daten gefunden. Der Plastikatlas hat knapp 50 Seiten. Die 19 Kapitel behandeln etwa gesundheitliche Gefahren, den Zusammenhang von Plastik- und Klimakrise, den harten Alltag von Müllsammelnden in den Großstädten dieser Welt, die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Plastik, den Handel mit Plastikmüll, die Lobbystrategien der Großkonzerne und den Zusammenhang von Tourismus und Plastik.

Wir haben also immer noch genügend Daten und Grafiken gefunden, die zu einem klaren Ergebnis kommen: So kann und darf es auf unserem Planeten nicht weitergehen, auch wenn es eine kleine globale Elite gerne so hätte. Und genau die wird sich bestimmt nicht freuen, wenn wir nun mit dem Plastikatlas ein wenig mehr Licht ins Dunkel der Kunststoffwelt bringen.

Aber der Plastikatlas bietet natürlich auch jede Menge Lösungen. Wir berichten von Zero-Waste-Strategien, Regulierungsansätzen und der exponentiell wachsenden Anti-Plastik-Bewegung, die sich unter anderem unter dem Banner von „Break Free From Plastic“ sammelt. Und genau bei unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Zivilgesellschaft und Wissenschaft wollen wir uns bedanken: Der Plastikatlas ist nur so voll mit erhellenden Daten und Fakten, weil Ihr uns geholfen habt, die besten Informationen zu finden, zu analysieren und zu kommunizieren. Es ist also auch Euer Plastikatlas. Und jetzt wünschen wir allen Leserinnen und Lesern viel Spaß damit – auch wenn es einem bei der Lektüre manchmal den Magen umdrehen mag.

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